6. Platz Hintz und Kunzt- Wettbewerb, Thalia Theater, Hamburg, 2003


Gleis 10



Hinter mir hat sich einer die Finger verbogen und vor mir haben sie ihr beiläufig den Bauch massiert.
Eine wetzt auf den Knien, monoton und gelassen.
Ein anderer wischt sich den Schweiß ab.

Ein Unbekannter kommt, kommt her, kommt näher.
'Sie können hier nicht liegen.'

Das habe ich mir schon überlegt, das Abweichen und Übergleiten.
Wir ziehen uns die Gleise entlang und laufen ineinander über.


Anders als ich, die eine hat sich beruhigt. Einer will sich jetzt entkleiden und wirft die Socken von sich. Unbeachtet, als wäre man das hier so gewohnt.
Irgendwo surrt sich ein Rucksack fest.
Den Sommer habe ich aus den Hemden gebügelt und die letzte Reise aus der Hose gedampft.

Ich vertrete mir die Beine, bis es unter den Schuhen knackst,
noch liegt Holz, Äste, noch ist Herbst. Der Winter zweigt die Menschen von der Strasse ab, also besser jetzt noch stehen und sich immer wieder seitlich wiegen.


Rückwärts lehnen. Einer hält mich fest und wundert sich, dass ich nicht flatterig bin.
Er schlittert dann selbst und faltet die Arme auf. Jemand hämmert, zerhämmert die Stille. Ich falle ins Sesselgerippe und schürfe mir die Arme auf.
'Wollen Sie nicht zu Hause schlafen?'


Wo du bist, wenn du zu Hause bist, und das wissen wollen, ist ein guter Grund, abends auf die Strasse zu gehen. Vom Gehsteig halte ich Ausschau in die Fenster, hinter denen du unendlich bist.

Einer kaut an Kleidern herum, Speichelringe. Jemandem zerreißt es die Hosen, er beschwert sich, unbeteiligt sieht der andere, sein Knurren lehnt er gegen Mauern an, und Türen. Man wartet, dass es stiller wird. Und jemand langweilt sich und hält sich an den Ungeraden fest.


Ich gehe auf und ab. Am Bahnsteig mit den Füssen scharren. Und Kaugummis zu Bällchen rollen, Ballons.
Das An- und Aufbrechen von Zeit, hier wirkt nichts gewaltsam, nur zögernd.
Reste sind noch, zusammengefaltet erzählen sie von ihm, der leise gegangen ist. Man kann die Lippen noch erahnen, Glasränder, und den durchgezogenen Löffel, schräg durch den Mund zwischen den Wortritzen.

Er wirft mir Gesten zu, Handgesten, ich werde bald übermütig,
wir reden, wir haben eine Beschäftigung. Ein Koffer summt Gehsteigmelodien.

Liegen, das Bett ist aufgebettet, und er liegt noch nicht darin. Und dann wird es nicht mehr heller, bis zum Morgen nicht, und man gräbt sich unter der Bettdecke zueinander, Zungen beblättern sich und alles wird so weit.

Stehen und sich verlagern, in Richtungen und die Augen sinken ab;
der Mund starrt und öffnet ins Leere, fast einladend, wie vor einem Kuss.

Unbeabsichtigt, jetzt fährt der Zug vorüber. Wir warten mit dem Sprechen nicht, wir setzen an, das ist gut, das Ansetzen von Sprechen und Zuwenden. Das Wechseln von Reden und Zuhören, zum Ohr hin, wenn die Wangen aneinander streifen. So und so, wir streifen einander im Leben nur.


Wieder verlagern. Wasser fehlt, rinnendes, unter das ich die Hände tauche und immer wieder ins Gesicht schwappe, ich hoffe, dass das Aufwallen, das innere Überschwappen wieder abnimmt.

Vor der Bahnhofsbrücke Licht, noch vom Tag, da ist noch Platz, da passt noch jemand hin. Ich gehe auf und ab, einer glüht und versendet Blicke. An der Wand prallt alles ab, Plakate und Leerzeichen.
Und da fährt jemand Rad, ein Leertreten der Pedale und das Ruckeln dann, mein Lieblingswitz.


'Worauf warten sie denn?'

Heute habe ich mein rotes Kleid angezogen, trotzdem bin ich schlechter Stimmung.

'Hier fahren die Züge nur durch. Hier hält niemand.'

Irgendwas kommt immer, denke ich, und – was will ich eigentlich?
Unerkannt werden und erkannt bleiben.
Und dann also gehe ich und verlasse den Bahnsteig.



Suni Löschner Herbst 2003

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